Riesling-Tankstellen

Die Weinprobierstände im Rheingau sind nicht nur ein lukrativer Absatzkanal. Sie befördern auch den Weintourismus und sind ein sozialer Treffpunkt für alle Generationen.

„Wein ist der gute Geist der Geselligkeit. Er weckt die Lebensgeister, macht den Sorgenvollen optimistisch, den Mürrischen heiter, den Reichen zugänglich und den Introvertierten gesprächig.“

Ein Zitat, das zwar keinen namentlich bekannten Verfasser hat, aber die alltäglichen Erfahrungen an den Weinprobierständen des Rheingaus gut zusammenfasst. Gäbe es sie nicht schon seit mehr als fünf Jahrzehnten, sie müssten nach Überzeugung der Winzer dringend erfunden werden. Denn die Weinstände gestatten nicht nur eine unkomplizierte Annäherung an das vermeintlich komplizierte Naturprodukt Wein, sondern haben vielfältige Funktionen. Sie sind ein Pfund in der weintouristischen Strategie des Rheingaus. Sie sind ein niedrigschwelliger Absatzkanal, und sie sind für viele Winzer von beachtlicher ökonomischer Bedeutung. Vor allem aber sind sie ein sozialer Treffpunkt für alle Generationen.

Davon schwärmt auch Uwe Rußler. Der umtriebige Winzer, der in Rauenthal eine sehr gut frequentierte Gutsschänke besitzt, betreibt mit jeweils anderen Winzerkollegen gleich zwei Weinprobierstände. Jenen am Rauenthaler Ortsrand, der eine schöne Aussicht ins Rheintal gewährt, und jenen am Biebricher Rheinufer. Die Unterschiede könnten nicht nur wegen der Lage kaum größer sein. Der Rauenthaler Stand ist vor allem ein Treffpunkt der Einheimischen zum Plausch und am Wochenende bei schönem Wetter eine beliebte Raststation für die vielen Ausflügler nahe dem Aussichtspunkt Bubenhäuser Höhe.

In Biebrich hingegen, dem einwohnerstärksten Stadtteil der Landeshauptstadt Wiesbaden, ist der Weinstand seit gut zwölf Jahren integraler Bestandteil der örtlichen Gastronomie. Er zählt laut Rußler viele Stammgäste, von denen einige fast täglich auf ein Glas vorbeischauen. Das „Antrinken“ im Frühjahr und das „Abtrinken“ im Herbst sind Veranstaltungen mit Kultstatus, bei denen auch die lokale Politprominenz in großer Zahl mit Riesling anstößt. „Sehen und gesehen werden“ ist dann das Motto. Sieben Rheingauer Winzer wechseln sich in Biebrich im Wochenrhythmus bei der Bewirtung ab. Ein höchst lukratives Geschäft, gibt Rußler zu. Eine Woche im Weinstand kann bei gutem Wetter mehr Umsatz bringen als manches gut laufende Weinfest, obwohl sich die Besucher ihre Speisen selbst mitbringen müssen – und dürfen.

Anders als in Rauenthal lassen sich in Biebrich die Stammgäste auch von ein paar Regentropfen nicht abschrecken. Aus der Nähe zum Winzer am Weinstand und wachsender Verbundenheit entstehen Bekannt-und Freundschaften, aber auch enge Kundenbeziehungen. Das bestätigt der Kiedricher Bürgermeister und Winzer Winfried Steinmacher, der in Biebrich ebenso ausschenkt wie am kürzlich mit europäischen Fördermitteln aufgehübschten Weinstand in Kiedrich. Ungezwungen nach einem Spaziergang ein Glas Wein zu trinken und Bekannte zu treffen, das hält Steinmacher aus Kundensicht für die größten Stärken der Weinstände. Und wenn Kinder dort ungezwungen spielen können, nimmt die Attraktivität für Familien noch einmal zu.

Es waren die treuen Privatkunden, die vielen Erzeugern über die Absatzkrise hinweggeholfen haben, als Restaurants zugesperrt, Weinfeste abgesagt und Exportmärkte verschlossen waren. Sobald die Weinstände an der frischen Luft wieder öffnen durften, waren sie besonders umlagert, erinnert sich Steinmacher. Kein Wunder also, dass die sieben am Biebricher Weinstand beteiligten Winzer derzeit keine weiteren Kollegen aufnehmen wollen, um den Erfolg zu teilen. „Die Tür ist zu“, bestätigt Rußler. Ein Fingerzeig darauf, wie gut das Geschäft läuft, ist die sechsstellige Summe, die die Winzer kürzlich in einen Neubau des Weinprobierstands investiert haben, mit finanzieller Unterstützung der Wirtschaftsförderung der Stadt Wiesbaden. Denn im Rathaus ist die Bedeutung der Weinprobierstände wohlbekannt. Andere Wiesbadener Stadtteile haben inzwischen nachgezogen mit Weinprobierständen, die von Vereinen betrieben werden und die dazu Winzer einladen.

Insgesamt gibt es mehr als zwei Dutzend Weinprobierstände im gesamten Rheingau. Die meisten liegen aufgereiht wie eine Perlenschnur entlang des Leinpfads am Rheinufer, einige aber auch in den Höhenstadtteilen wie Rauenthal, Johannisberg und Hallgarten. Bei den Auswärtigen besonders beliebt ist der Stand am Eltviller Rheinufer, weil er sich in die Flaniermeile am Ufer einfügt und sich jeder Abstecher gut mit einem Besuch der Eltviller Burg nebst Rosengarten und der hübschen Altstadt verbinden lässt. Bisweilen ist der Andrang so groß, dass Einheimische lieber ins ruhigere Kiedrich ausweichen, sagt Steinmacher.

Sehr beliebt ist auch der Wallufer Weinprobierstand neben dem Segelhafen, der in einem 16.000 Liter fassenden Holzfass untergebracht ist. Er hat durch die Umgestaltung des Rheinufers noch einmal an Attraktivität gewonnen. Hier stoppen zwischen Ostern und dem Beginn der Weinlese viele Radfahrer auf der Route zwischen Schiersteiner Hafen und Eltville. Seine Beliebtheit reicht aber nicht bis an die Hattenheimer „Fässer“ an den Rheinwiesen heran, die seit fast 50 Jahren ein Treffpunkt sind. Nur eine große Wiese trennt die Zecher hier vom Rheinufer.

Jeder Weinprobierstand hat sein eigenes Profil, seine eigenen Regeln – die hin und wieder intern auch für Ärger unter den Winzern sorgen – und sein eigenes Stammpublikum. Das informiert sich meist vorher, welcher Winzer gerade den Stand hat, ob dessen Weinsortiment den eigenen Vorlieben entspricht. Der Weinbauverband gibt jedes Jahr eigens einen Faltplan heraus, in dem alle Winzer mit ihren jeweiligen Präsenzzeiten an allen zwei Dutzend Ständen verzeichnet sind.

Verbandsgeschäftsführer Dominik Russler sieht in den Probierständen „äußerst wichtige Institutionen und Treffpunkte für einen eher unverbindlichen Weingenuss in netter und entspannter Atmosphäre“. Wichtig seien sie nicht nur für Touristen, sondern auch für Einheimische. Eine so große Dichte wie im Rheingau gebe es kaum in anderen Weinanbaugebieten. Dass sie „wirtschaftlich äußerst erfolgreich sein können“, zeigten Weinstände auch abseits der Weinberge wie in Biebrich. Den Winzern böten sie eine gute Plattform, sich Bestands- und Neukunden zu präsentieren, das 0,1-Liter-Standardglas lade zum Probieren ein.

Laut Russler berichten die Winzer allerdings von einer leichten Konsumzurückhaltung im Vergleich zu den Vorjahren, was auch der Kiedricher Steinmacher bestätigt. Der Andrang während der Pandemie sei wieder abgeebbt. Das Geld sitze nicht mehr so locker. Der Verzicht gehe einher mit dem sinkenden Pro-Kopf-Verbrauch in Deutschland, der auch in der Gastronomie bemerkbar sei, meint Russler. Weinprobierstände haben gleichwohl Zukunft, und auch außerhalb des Rheingaus werden immer wieder neue eröffnet. Ein weiterer Trend: Alkoholfreie Weine und Sekte gehören an den meisten Weinständen zum Standardsortiment. Eine Traubensaftschorle allein genügt nicht mehr, bestätigt Winzer Uwe Rußler, der jedes Jahr schon einige Tausend Liter alkoholfreien Wein verkauft.

Nach Einschätzung des Weinbauverbands sind die Weinprobierstände zu einer „sozialen Institution“ geworden. Ein Treffpunkt wie einst der dörfliche Marktplatz, der wegen der attraktiven Lage am Rhein oder wegen der beschaulichen Ruhe der Höhengemeinden auch bei Familien mit Kindern sehr beliebt sei. Jede Winzergemeinschaft müsse mit Blick auf ihre Zielgruppen den eigenen Stand ausrichten und profilieren. Dann werde er auch erfolgreich sein. (mein Text aus dem FAZ Metropol-Magazin vom August 2024)