Glühwein – muss das sein?

Je kühler der Abend, desto größer das Verlangen nach einem wärmenden Glühwein. Für Stefan Keßler und Johannes Ohlig ist ein kalter Dezember gut fürs Geschäft. Denn die Stände der beiden Rheingauer Winzer gehören für die regelmäßigen Besucher des Wiesbadener Sternschnuppenmarktes zu den besonders beliebten Anlaufstationen. Keßler und Ohlig haben sich auf Winzerglühwein spezialisiert, und in den vier Wochen vor Weihnachten dreht sich bei ihnen alles um das beliebteste Getränk auf den deutschen Weihnachtsmärkten. Zwei von drei Weihnachtsmarktbesucher haben die feste Absicht, sich einen Becher zu gönnen. Nur rund ein Drittel lehnt die flüssige Kalorienbombe konsequent ab. ICH AUCH

Angebot und Nachfrage nach Winzerglühwein haben in den zurückliegenden Jahren zugenommen, bestätigt das in Mainz beheimate Deutsche Weininstitut, das den Gesamtkonsum in Deutschland auf 50 Millionen Liter schätzt: „Nahezu alle Anbieter berichten von steigenden Absätzen“. Die Verbraucher seien bereit, gute Qualität preislich zu honorieren. Entsprechend böten immer mehr Winzer Glühwein aus hochwertigen, teils reinsortigen Grundweinen nach alten Hausrezepten oder mit individuellen Gewürzmischungen an, heißt es. In einer Datenbank sind fast 270 Weingüter gelistet, die Winzerglühwein anbieten. Dabei halten sie sich laut Weininstitut häufig bei der Süßung zurück, um die Harmonie der Weinaromen mit den würzenden Zutaten besser zum Ausdruck zu bringen.

Für den Winkeler Winzer Ohlig ist dieser Befund nicht neu. Er ist seit 35 Jahren auf dem Wiesbadener Weihnachtsmarkt mit seinem Glühwein dabei und immer nah an den Wünschen der Kunden. Sein Anliegen war es schon bei den Anfängen, den Glühwein „nicht mit Süße zuzukleistern“, damit der Grundwein aus dem Rheingau noch geschmacklich zum Ausdruck kommt. Ohlig führt dabei die Rebsorten Cabernet Mitos, Dakapo und Spätburgunder zu einer harmonischen Cuvée zusammen, die feine Brombeeraromen zur Geltung kommen lässt.

Das Rezept für seinen „roten Klassiker“ hat Ohlig in 35 Jahren nicht verändert, doch der „Rote“ verliert langsam seine Dominanz. Rund 30 Prozent des Konsums entfallen in Wiesbaden inzwischen auf Glühwein aus weißen Rebsorten, rund zehn Prozent auf einen Rosé aus Spätburgunder. Beides werde gut angenommen, sagt Ohlig . Der Weiße vor allem von jenen Besuchern, die weniger Wert auf Süße in der Tasse legen, und der fruchtbetonte Rosé liegt ohnehin im Trend.

Ganz ähnlich sieht der Martinsthaler Winzer Stefan Keßler die Marktlage. Bei ihm hält sich die Nachfrage nach Weiß und Rot in der Glühweintasse sogar schon die Waage, während der Rosé noch eine Nische besetzt.

Das Weininstitut bestätigt die Entwicklung hin zu mehr weißen und rosafarbenen Spielarten des Glühweins. Im Aufwind seien zudem alkoholfreie Varianten. Auch das können Ohlig und Keßler bestätigen. Diese Nachfrage wachse, wenn auch verhalten.

Beide Winzer haben während der Corona-Pandemie aus der Not eine Tugend gemacht und ihren Glühwein in Flaschen und in die sogenannte Bag-in-Box für den häuslichen Genuss während des Lockdowns gefüllt. Das haben beide Winzer nach der Pandemie beibehalten, auch wenn der Absatz mit der Wiederzulassung der Märkte schnell zurückgegangen ist. Dass sich mancher Kunde am Stand noch eine Flasche für Zuhause mitnimmt, ist aber gar nicht so selten. Nach Einschätzung des Weininstituts „scheint sich der Glühweingenuss zu Hause zunehmend zu etablieren“, was mit einer „Premiumisierung“ des Angebots einhergehe.

Von der Industrieware in den Regalen des Lebensmitteleinzelhandels unterscheide sich der Winzerglühwein schon geschmacklich, in der Regel durch weniger Süße und einen erkennbareren Weingeschmack. Trotz der Süße und Gewürze sind bei Winzerglühwein zudem Jahrgangsunterschiede erkenn- und schmeckbar. „Bei einem Naturprodukt gibt es immer Unterschiede“, sagt Keßler, und nach Ansicht von Ohlig tut der sehr gute Rotweinjahrgang 2023 auch der Güte des aktuell ausgeschenkten Glühweins gut.

An solchen Unterschieden haben die industriellen Anbieter kein Interesse, weil ihr Produkt möglichst immer gleich schmecken sollte. Zudem gibt es rechtliche Unterschiede. „Winzerglühwein“ darf nur heißen, was er aus eigenen Weinen vom Erzeuger zubereitet und je nach Rezept mit Zimt, Nelken, Sternanis, Orange und Gewürzen versetzt wurde. Laut Weingesetz ist Glühwein ein „aromatisiertes weinhaltiges Getränk“, das ausschließlich aus Rot-, Weiß- oder Roséwein hergestellt und gesüßt sowie gewürzt wurde. Der Zusatz von Alkohol ist ebenso verboten, wie der von Wasser oder Farbstoffen. Der vorhandene Alkoholgehalt muss mindestens sieben und darf höchsten 14,5 Volumenprozent aufweisen.

Für die Rosé-Spielart war 2022 wegen der gestiegenen Nachfrage sogar die  EU-Verordnung geändert. Diese Variante darf sowohl aus Roséwein als auch aus einer Cuvée von Rot- und Weißwein hergestellt werden. Letzteres ist für die Roséwein nicht zulässig. Wird alkoholfreier Wein mit Glühweingewürzen versetzt, darf er laut Weininstitut nicht als „alkoholfreier Glühwein“, sondern muss als „aromatisiertes Getränk aus alkoholfreiem Rotwein“ bezeichnet werden.

Wirtschaftlich ist der Winzerglühwein für die etablierten Erzeuger eine wichtige Einnahmequelle. „Das ist nicht mehr wegzudenken“, sagt Ohlig, der seinen Betriebsablauf auf diese vier Glühweinwochen im Jahr ausgerichtet hat und mit seiner Frau täglich im Stand steht. Auch für seinen Kollegen Keßler ist der Glühweinverkauf eine bedeutsame Größe in der Bilanz. Gerade in Zeiten des schwächelnden Weinverkaufs ab Hof ist Keßler „froh über jeden Liter, den wir verkaufen können“. (aus der FAZ vom 14.12.2024)