Das deutsche Weinbezeichnungsrecht gilt als hochkomplex, und die Etiketten auf Weinflaschen lesen sich für die Verbraucher bisweilen höchst verwirrend. Doch es geht auch anders. Vor genau 40 Jahren schlug im Rheingau die Geburtsstunde eines Weins, der mit seinem kurzen Namen alle Fragen beantwortet: Charta. Dahinter steckt ein hochwertiger Riesling aus dem Rheingau, geschmacklich trocken ausgebaut, prädestiniert als Essensbegleiter, von einer internen Jury bei einer Blindverkostung auf seine Qualität hin sorgsam geprüft und erst nach knapp einem Jahr Reife in der Vermarktung gegeben. Ein Konzept, dass unter den Anhängern der Charta-Weine bis heute als überzeugend gilt, dem aber auf lange Sicht dennoch kein durchschlagender Erfolg beschieden war.
Denn es sind nur noch ein Dutzend Winzer, die Jahr für Jahr 13 Charta-Weine vorstellen. Im Jubiläumsjahr kamen nach gut zehn Jahren Unterbrechung noch die Hessischen Staatsweingüter hinzu. Das ist eine Rückbesinnung. Denn Hans Ambrosi, lange Jahre der Leiter der Hessischen Staatsweingüter, zählt zu fünf Gründervätern der Charta-Bewegung, ebenso wie Erwein Graf Matuschka-Greiffenclau von Schloss Vollrads, die Rüdesheimer Winzer Bernhard und Heinrich Breuer sowie Helmut Becker vom Geisenheimer Institut für Rebenzüchtung und Rebenveredlung. „Sie setzten Maßstäbe für die „klassifizierte Herkunft eines Weins“, heißt es in der Rückschau vom Rheingauer Verband der Prädikatsweingüter (VDP). Nach Ansicht von dessen Präsident, dem Kiedricher Winzer Wilhelm Weil, stand der deutsche Weinbau zu Beginn der 19080er Jahre an einem Scheideweg: Weiter den „Irrweg“ zu gehen, billige und süße Tropfen für den national und internationalen Massenmarkt zu produzieren, oder an das Qualitätsstreben der Vergangenheit anknüpfen, als deutscher Riesling weltweit anerkannt war und in den europäischen Adelshäusern auf den Tisch kam. Dass heute wieder trockene Weine aus besten Rheingauer Lagen gefragt seien, habe die Region auch der Charta-Bewegung zu verdanken, meint Weil.
Dieser eingetragene Verein engagierte sich parallel zum VDP für Rieslinge aus besten Lagen von hoher Qualität. Nach seiner Gründung 1984 stießen bis zu 50 Winzer zu der Vereinigung, die sich als Gegenbewegung „weg vom süßen Massenwein“ und hin zu einem typischen Rheingauer Riesling verstand. Die romanischen Bögen als Markenzeichen auf den Charta-Flaschen sind eine Reverenz an die Frontfenster des Grauen Hauses in Oestrich-Winkel, das als ältestes Steinhaus in Deutschland gilt. Charta-Weine werden bis heute ausschließlich in den klassischen brauen Schlegelflaschen gefüllt. Die Charta-Bewegung war es, die sich Ende der 1980er Jahre an vorderster Front in Deutschland für die Klassifizierung der besten Weinberge engagierte und damit an historische Einteilung von Weinbergen nach der Güte anknüpfte, wie sie erstmals für das Jahr 1867 dokumentiert ist.
Damit sollte die Grundlage für die Erzeugung großer Weine aus besten Weinbergen geschaffen werden. Den Charta-Winzern ging es um eine Korrektur des Weingesetzes von 1971, das bedeutsame Einzellagen hatte verschwinden lassen. Im Jahr 1992 stellen die Charta-Winzer erstmals im Rheingau „Erste Gewächse“ aus zuvor definierten Spitzenlagen vor. Eine inoffizielle Klassifikation, die aber keinen Bestand haben sollte, denn der Rheingauer Weinbauverband nahm sich des Projekts an, und 1999 wurde mit dem Segen des Landes Hessen eine wissenschaftlich erstellte Gütekarte des Rheingaus präsentiert. Auf ihrer Basis sehen sich alle Rheingauer Winzer mit Besitz in den besten Weinbergen in die Lage versetzt, „Erste Gewächse“ zu erzeugen. 1999 war auch das Jahr der Fusion zwischen Charta-Verein und VDP, wodurch der Rheingau trotz personeller Überschneidungen zum mitgliederstärksten größten VDP-Regionalverband in Deutschland aufstieg. Inzwischen ist die Zahl der VDP-Winzer wieder deutlich geringer. Rückläufig war viele Jahre auch die Zahl der Charta-Wein-Erzeuger.
Dabei sieht Mark Barth, Hattenheimer Winzer und stellvertretender VDP-Vorsitzender, unverändert ein großes Potential in diesen Weinen. Für den Johannisberger Winzer Johannes Eser, der als einziger zwei Charta-Weine erzeugt, ist das sein „erfolgreichster trockener Wein“. Nicht in allen Gütern hat er diese hohe Bedeutung, aber auch Winzer Bernd Spreitzer spricht von einem „Herzenswein“. Am 10.. November steht der Charta-Wein anlässlich der Riesling-Gala zum Abschluss der Glorreichen Rheingau Tage im Mittelpunkt. Und nach einer Verkostung mit 20 Charta-Weinen von fünf Erzeugern aus vier Jahrzehnten sahen sich in dieser Woche die Winzer bestärkt, dass der Charta-Wein Zukunft hat.
(aus der FAZ vom 9. November 2024)