Wer den 525 Liter fassenden Tank mit der Hand berührt, der kann es unmittelbar fühlen: Die Edelstahlhülle vibriert. Es sind nicht irgendwelche beliebigen Schallwellen, die den Behälter und damit auch den darin heranreifenden Wein rund um die Uhr und an sieben Tage in der Woche in Schwingungen versetzen. Sie folgen vielmehr einer Komposition, die Johann Sebastian Bach im Jahr 1741 veröffentlicht hat. Die Goldberg-Variationen in der Haupttonart G-Dur gelten als besonders gelungener Ausdruck barocker Variationskunst. Es zeichnet sich laut Wikipedia „durch einen planvollen Gesamtaufbau mit regelmäßig eingefügten, in den Oberstimmen streng kanonischen Sätzen aus.“ Was das für den Anfang Oktober geernteten Wein bedeutet, will der Mainzer Wissenschaftler Peter Kiefer von der Uni Mainz herausfinden, der die Wechselwirkungen von Klang erforscht und der die Bach-Komposition wegen ihrer intensiven Schwingungen bewusst ausgewählt hat. Peter Winter, Eigentümer des Hattenheimer Weinguts Georg-Müller-Stiftung, spricht von einem „seriösen Experiment“ in seinem Weinkeller, auf dessen Ausgang er selbst sehr gespannt ist.
Dass Winzer bisweilen im Keller ihre Weinfässer mit Musik beschallen, ist nicht neu. Was Winter an dem Projekt elektrisiert, ist der Vergleich. Denn er hat zwei Tanks mit ein und demselben hochwertigen Riesling aus der Lage Hattenheimer Schützenhaus gefüllt. Aber nur einer der beiden – sonst identischen – Stahltanks wird mit den Schallwellen von Bach „behandelt“. Nun gärt der Wein und bleibt auch nach Abschluss der Gärung bis zum Frühjahr mit der Hefe verbunden. Im März oder April wird der Wein dann in Flaschen gefüllt, und die Stunde der Wahrheit nähert sich: Hat Bachs Komposition den Wein geschmacklich verändert?
Winter erwartet, dass die Verkostungen der beiden trocken ausgebauten Weine im Frühjahr eine Veränderung belegen, die allerdings weniger musikalischer, denn physikalischer Natur sein könnte: Wenn die Schwingungen des Tanks dazu beitragen, dass kleine Hefeteilchen im Wein aufgewirbelt werden und deshalb intensiver miteinander in Kontakt geraten, dann könnte das den Geschmack verändern, so Winters Vermutung: „Ich bin sehr gespannt, was dabei herauskommt“. Die Winzer kennen die Methode des manuellen Aufrührens der Hefe schon lange unter dem Begriff Batonnage.
Winter sieht das Experiment auch als eine Reverenz gegenüber dem Jubiläum 250 Jahre „Entdeckung“ der Spätlese, das 2025 gefeiert wird. Sein Wein ist zwar von Spätlesequalität, doch wird Winter wegen der Statuten des Verbands der Prädikatsweingüter das – ausschließlich süßen Weinen vorbehaltene – Prädikat Spätlese nicht auf das Etikett des Klangweins schreiben. Geplant ist aber eine Sonderedition mit jeweils zwei Flaschen im Paket, die jeweils aus einem der beiden Tanks gefüllt wurden. Dann kann sich jeder Wein- und Musikfreund selbst ein Bild machen, ob Bachs-Kreationen den Riesling – positiv – beeinflusst haben. Und beim Trinken darüber philosophieren, welche Wirkung wohl Heavy Metal gehabt hätte. (aus der FAZ vom 28.10.2024)