Zur Lage: Riesling gibt Rätsel auf

Die Winzer beschäftigen aktuell nur schwer zu erklärende Reifeverzögerungen beim Riesling: Beim Mostgewicht haben die Rieslingtrauben im September nur mäßig zugelegt, während die Säurewerte stagnierten (noch über 13g) und noch immer recht hoch sind. Zu hoch, um mit der diesjährigen Weinlese auf breiter Front zu starten. Mit dem Beginn der Hauptlese ist daher vorerst noch nicht zu rechnen. Manfred Stoll, Leiter des Instituts für allgemeinen und ökologischen Weinbau der Hochschule Geisenheim geht davon aus, dass es noch bis zu zwei Wochen dauern könnte, bis sich eine „Harmonie“ von Zucker und Säure in den Beeren eingestellt habe. Das hieße, dass die Oechslewerte auf durchschnittlich 85 Grad zugelegt haben und dass die Säure dann auf knapp unter zehn Gramm je Liter Most gefallen ist.

Ob die Natur den bislang noch entspannten Winzern so lange Zeit gibt, oder ob zunehmende Fäulnis eine frühere Ernte erzwingt und im Nachgang womöglich eine Entsäuerung im Weinkeller notwendig macht, ist noch ungewiss. Weinbaupräsident Peter Seyffardt kann sich an eine derartige Reifeverzögerung bei früheren Jahrgängen nicht erinnern, aber sieht darin noch lange keine Hypothek für den Jahrgang 2024: „Da kann noch was Gutes entstehen.“ Seyffardt sieht sich allerdings wie andere Kollegen gezwungen, die schon angereisten Lese-Mannschaften nach Abschluss der Burgunder-Ernte mit anderen Arbeiten im Weinberg zu beschäftigen, ehe es endlich an die Hauptsorte Riesling gehen kann. So viel von Hand entblättert wurde daher selten im Rheingau.

Die Gründe für die Reifeverzögerung sind für Praktiker und Wissenschaftler gleichermaßen mysteriös. Am Wasser vom Himmel und entsprechend der Feuchtigkeit im Boden hat es in diesem Jahr jedenfalls nicht gemangelt. Zwischen Januar und Juli fiel in jedem Monat mehr Regen als im langjährigen Durchschnitt. In Geisenheim wurden schon jetzt 126 Liter mehr je Quadratmeter registriert als im langjährigen Mittel. Das Jahressoll ist schon fast erfüllt. Die Natur habe „durchatmen“ können, so Stoll.

Die hohen Temperaturen im Frühjahr hatten einen frühen Austrieb zur Folge, gefolgt vom Blütebeginn zum Ende der ersten Juniwoche und dem Reife-Start Mitte August. Der viele Regen forderte die Winzer im Kampf gegen die beiden gefährlichsten Krankheiten im Ertragsweinbau: Den falschen (Peronospora) und echten (Oidium) Mehltau. Vor allem die Ökowinzer waren deshalb beim Pflanzenschutz stark gefordert und musste laut Stoll etwa doppelt so häufig zum Spritzeinsatz in die Weinberge als ihre integriert wirtschaftenden Kollegen. Stoll hält es für möglich, dass Mehltaubefall mit der Folge reduzierter Photosynthese ein Grund für die Reifeverzögerung sein könnte. Für Praktiker wie Seyffardt liegen die Ursachen ebenfalls nicht auf der Hand: „Ich erlebe das so zum ersten Mal, und es kommt immer anders, als man denkt.“

Glimpflich davongekommen ist der Rheingau zwischen dem 22. und 26. April, als Spätfröste in einigen Teilen Deutschlands hohe Schäden in der Landwirtschaft verursachten. Weil die Hauptlese noch gar nicht begonnen hat, sind die Ernteerwartungen im Hinblick auf Qualität und Quantität  noch mit großen Unsicherheiten behaftet. Entscheidend wird auch das Wetter in den kommenden vier bis sechs Wochen sein. Ergiebige Regenfälle wurden die Erwartungen weiter eintrüben. Noch aber gebe es überhaupt keinen Grund für Panik, so Seyffardt. Der Weinbau sei jedes Jahr aufs Neue eine Herausforderung: „Es gibt keine Blaupause“. (leicht gekürzt aus meinem Bericht in der FAZ vom 24. September)