Droht ein Flickenteppich?

Wird die Kulturlandschaft des Rheingaus als Folge der Weinmarktkrise zum Flickenteppich aus verwilderten und brach gefallenen Weinbergen? Mehr Engagement für die Artenvielfalt könnte ein Ausweg sein. Die aktuelle Krise des Weinbaus ist keine „Delle“ von überschaubarer Dauer, sondern Ausdruck eines tiefgreifenden Wandels. Gerade erst ermittelten Marktforscher, dass die Weineinkäufe der privaten Haushalte im ersten Halbjahr um fast vier Prozent rückläufig waren. Damit setzte sich der Negativtrend der beiden Vorjahre fort. Die globale Überproduktion von Wein trifft auf sich wandelndes Konsumverhalten, auf ein wachsendes Gesundheitsbewusstsein, eine größere Distanz auch der jüngeren Generation zum Alkohol und eine immer älter und deshalb schrumpfende Generation leidenschaftlicher Weintrinker.

Die Destillation von Millionen Liter Wein zu Alkohol wie im vergangenen Jahr in Württemberg verschafft nur kurzfristig Erleichterung im Keller. Eine nachhaltige Marktentlastung setzt die Rodung von Weinbergen voraus. Diese Einsicht ist auch im Rheingau angekommen. Auf der jüngsten Sitzung des Hauptausschusses des Rheingauer Weinbauverbandes wurde als eine Ursache der Absatzkrise in Deutschland der mangelnde Weinpatriotismus identifiziert. Das sei in Nachbarländern wie Frankreich oder Österreich anders, so die Meinung der Winzer. Der Deutsche sei nicht bereit, für deutsche Weinqualität mehr Geld auszugeben als für die spanische Konkurrenz, die deutlich günstiger produzieren könne. Auch das bestätigen Markterhebungen:  Der inländische Marktanteil der hiesigen Erzeuger ist im ersten Halbjahr 2024 überproportional auf 42 Prozent gefallen.

Für Gesprächsstoff in der Branche sorgen zudem Zahlen des Deutschen Weininstituts, wonach im ersten Halbjahr noch gut 40 Prozent der deutschen Haushalte zumindest gelegentlich Wein eingekauft haben. Die Absatzanalyse der Hochschule Geisenheim bestätigt einen anhaltenden Negativtrend mit einem jeweils zweistelligen Minus bei Absatz und Umsatz. Liegt es am Marketing? Sollten die Erzeuger besser Betriebswirtschaftslehre statt Weinbau studieren und sich auf Verkauf und Vertrieb ihrer Erzeugnisse konzentrieren, statt selbst mit dem Schmalspurtraktor durch die Rebzeilen zu fahren oder die Rebstöcke von Hand zu pflegen?

Nach Ansicht von Weinbaupräsident Peter Seyffardt hat es der Rheingau jedenfalls nicht geschafft, eine überzeugende Marke zu bilden. Der Rheingau müsse über eine Qualitätsoffensive nachdenken, was Verbandsgeschäftsführer Dominik Russler für den einzig erfolgversprechenden Weg in die Zukunft hält. Denn bei den Produktionskosten kann der Rheingau nach übereinstimmender Analyse aller Beteiligten nicht mit dem meisten anderen deutschen Weinregionen und schon gar nicht im internationalen Maßstab mithalten. Die Rheingauer wollen sich darauf besinnen, dass sie nur für drei Prozent der deutschen Weinproduktion stehen und diese geringe Menge in der bevölkerungsstarken und wirtschaftlich prosperierenden Rhein-Main-Region eigentlich gut vermarktbar sein müsste. Doch die Realität sieht anders aus, und die Ursache bleibt den Winzern rätselhaft.

Hoffnung macht ihnen, dass nach ihrer Überzeugung die naturräumliche Ausstattung des Rheingaus mit dem Rhein im Süden und dem waldreichen Taunus im Norden sowie dem anmutigen Landschaftsbild ein Pfund vorhanden ist, mit dem sich nicht nur in der Rhein-Main-Region wuchern lässt. Vielen Betriebe gehe es wirtschaftlich noch immer sehr gut, sagte Präsident Seyffardt, der dazu auch sein eigenes, gerade erst um eine neue Kellerei erweitertes Weingut in Martinsthal zählt. Andere Erzeuger gehen davon aus, dass die Aussichten auf dem Heimatmarkt düster bleiben und die Hoffnung bei absehbar reduzierter Rebfläche im Export liegt, wo höhere Preise durchsetzbar erscheinen. Die Vorboten einer Flächenreduktion sind dennoch auch im Rheingau erkennbar, denn die Pacht- und Kaufpreise für durchschnittlich gute Weinberge sind im Sinkflug, und vereinzelt fallen dem Wanderer nicht mehr bewirtschaftete Flächen auf. Sie sind den Winzern ein Dorn im Auge, weil sie zur Verbreitung von Schädlingen und Krankheiten beitragen, häufig zuwuchern und Wildschweinen ein Versteck bieten. Der Marktpreis für Fasswein liegt mit rund 80 Cent je Liter unter den Produktionskosten im Rheingau.

Sind deshalb gezielte Brachflächen eine Lösung, um mit dem Druck des Weinmarktes umzugehen? Immerhin haben die Winzer nach dem Roden der Rebstöcke zwei Jahre Zeit, Anträge auf Wiederbepflanzung zu stellen und dann noch einmal sechs Jahre, um tatsächlich neue Rebstöcke setzen zu lassen. Das könnte temporäre Entlastung bringen oder den Weg  zum Ausstieg aus der Bewirtschaftung ebnen. Doch eine Kulturlandschaft als „Flickenteppich“ schreckt viele, wenn auch nicht alle Winzer. Wie mit diesen Brachflächen umzugehen wäre, darüber müssen sich die Winzer noch Gedanken machen. Kompliziert wird eine zügige  Bodenneuordnung jenseits der Jahrzehnte dauernden Flurbereinigung durch die kleinstrukturierten und komplizierten Besitzverhältnisse. Manche Parzelle gehört einer Erbengemeinschaft in fünfter Generation. Branchenkenner gehen davon aus, dass absehbar viele Kleinstwinzer im Rheingau aufgeben, deren Flächen sich aber auf 300 bis 400 Hektar summieren. Angesichts der Absatzkrise gilt die Neigung der Großbetriebe als sehr überschaubar, immer noch weitere Weinberge in ihr Portfolio aufzunehmen.

Was tun? Weinberge müssen gerodet werden, um den Gesetzen des Marktes zu folgen. Das ist auch die Überzeugung des Geschäftsführers der Staatsweingüter, Dieter Greiner, der die Erarbeitung einer Art Masterplan für den Rheingau fordert und eine Antwort auf die Frage zu finden: Wie könnte die Weinbergslandschaft der Zukunft aussehen?

Ilona Leyer vom Institut für angewandte Ökologie der Hochschule Geisenheim entwickelt Ideen, wie der Erhalt der Kulturlandschaft und mehr Engagement für die Artenvielfalt Hand in Hand gehen können. Sie plädiert dafür, mehr Vielfalt in die Monotonie der Weinbergslandschaft zu bringen. Ein Konzept nach dem Motto „zurück in die Zukunft“, denn in der Vergangenheit war die Weinbergslandschaft viel kleinteiliger mit der Folge von mehr Säumen, Rainen, Hecken, Gräben, Bäumen und Lesestein-Haufen. Das Rad sei zwar nicht um ein halbes Jahrhundert  zurückzudrehen, so Leyer, doch hätten es die Winzer in der Hand, kleine Ecken und Zipfel von Weinbergen, wo meist nur einige wenige Rebstöcke stehen, für mehr Artenvielfalt freizugeben. In ganz Deutschland beteiligen sich inzwischen mehr als 30 Weingüter an diesem Konzept, im Rheingau zählen die Staatsweingüter und das Rüdesheimer Weingut Georg Breuer dazu.

Zur Veränderung der Weinbergslandschaft gehört auch eine Zäsur beim Wassermanagement. Lange Betonrinnen gen Rhein zeugen noch von der Philosophie, das Niederschlagswasser möglichst schnell aus den Weinbergen abzuführen. Angesichts der sich häufenden  Dürrephasen und dem Trockenstress der Reben in wasserdurchlässigen Böden hat ein Umdenken eingesetzt. Es geht nun darum, das Wasser möglichst lange in der Gemarkung zu halten und es dort zu versickern, statt schnell in den Rhein abzuleiten. „Die Flurbereinigung muss komplett umdenken“, sagt Seyffardt, der die Bestrebungen der Stadt Eltville für ihre Bemühungen lobt, das Regenwasser möglichst lange in den Weinbergen zu halten.

Im Geisenheimer Fuchsberg wird gerade eine solche Betonrinne in ein Bachbett mit Mulden und Mäandern umgebaut, und „das funktioniert sehr, sehr gut“, so Leyer. Der Umbau trage zur Artenvielfalt und zum Hochwasserschutz bei und helfe den Reben, sagt die Professorin, die zudem für mehr Blühstreifen, für breitere Rebzeilen mit dauerhafter Begrünung in der Mitte und der Pflanzung von Solitärbäumen plädiert. Nicht alles überzeugt die Winzer. Viele haben die Sorge, dass mehr Brachflächen verwildern und zum Hort von Wildschweinen werden. Auch Bäume im Weinberg werden skeptisch gesehen, weil sie die Wasserversorgung der Reben stören könnten. Am wenigsten scheint  die Winzer der überschaubare Ertragsverzicht durch mehr Engagement für Artenvielfalt und Strukturreichtum in der Weinkulturlandschaft zu schrecken. Denn Wein gibt es mehr als genug.   

(aus meinem Bericht für die FAZ)